Shahzamir Hataki wurde im Jahr 2000 in Masar-e Scharif, Afghanistan, geboren. Wegen des Krieges konnte er – der einzige Sohn seiner Eltern – in seiner Heimat keine Schule mehr besuchen und entschloss sich mit 15 Jahren zur Flucht. Nach drei Monaten auf der Flucht, die ihn fast das Leben gekostet hätte, kam er 2016 in Berlin an.
Shahzamir, stell dich doch bitte kurz vor?
Shahzamir: Ich heiße Shahzamir Hataki, aber alle meine Freunde beim Fußball und in der Schule sagen Shah zu mir. Ich komme aus Masar-e Scharif im Norden Afghanistans und wohne jetzt seit November 2015 in Deutschland.
Du bist mit 14 geflüchtet und nach Berlin kommen. Bist du allein gekommen?
Shahzamir: Ja, ich bin allein ungefähr drei Monate unterwegs gewesen. Es war eine lange und schreckliche Flucht über die Türkei, Ägäis, Griechenland, Serbien.
Welche Erfahrungen hast du in den Jahren gemacht, die du nun hier bist?
Shahzamir: Für mich hat sich echt viel verändert. Ich habe viel Neues gelernt, viele gute Erfahrungen gesammelt für mein Leben. Ich habe die deutsche Sprache gelernt, die Schule besucht und einen deutschen Abschluss gemacht, ich habe liebe Menschen kennengelernt, erfahre eine neue Kultur, auch eine andere Religion.
Hast du eine eigene Wohnung?
Shahzamir: Ich wohne seit ein paar Tagen in einer kleinen, eigenen Wohnung. Erst habe ich in einer Unterkunft mit anderen Jugendlichen aus verschiedenen Ländern gelebt. Mit 18 Jahren musste ich die Unterkunft verlassen. Seitdem habe ich in verschiedenen WGs gewohnt.
Wie ist dein behördlicher Status als Geflüchteter in Deutschland?
Shahzamir: Mein erster Antrag auf Asyl ist abgelehnt worden. Dagegen habe ich vor zwei Jahren geklagt und die Klage liegt immer noch beim Gericht. Ich habe auch nichts mehr von denen gehört. Ich weiß nicht, wann die meinen Fall bearbeiten, wann ich von denen etwas höre.
Lässt du dich professionell beraten in dem Verfahren?
Shahzamir: Ja, ich habe Hilfe. Ich habe sozusagen eine deutsche Familie. Die sind für mich wie mein Papa und meine Mama. Ich habe sie durch das „The Poetry Project“ kennengelernt. Sie waren mein Vormund. Und obwohl ich jetzt über 18 bin, haben wir immer noch Kontakt. Sie organisieren sehr viel für mich, wenn es um Schule oder um meinen Aufenthaltsstatus geht, um Angelegenheiten mit dem Anwalt. Wir telefonieren, sie sind für mich wie eine zweite Familie, ich nenne sie sogar Mama und Papa. Wir treffen uns regelmäßig und teilen viel miteinander.
Was hast du aus deinem Mittleren Schulabschluss gemacht, arbeitest du oder lernst du einen Beruf?
Shahzamir: Ich mache seit Oktober eine Ausbildung zum Krankenpfleger in der Charité Berlin. Das läuft sehr gut, ich freue mich, weil mir die Arbeit Spaß macht.
Du hast eingangs von Fußball gesprochen. Spielst du?
Shahzamir: Ja, ich bin Fußballer. Ich liebe Sport im Allgemeinen. Ich mache Fitness, spiele Fußball im Verein. Landesliga beim FC Schöneberg. Das macht total Spaß. Ich hab schon als Kind hinter der Moschee immer Straßenfußball gespielt mit den Kindern aus der Nachbarschaft. Ohne Schuhe. Das ist für mich Kindheit. Die Freude am Fußball habe ich bis heute, immer wenn ich zum Training gehe, bin ich gut drauf. Ich treffe dort andere Leute, meine Freunde, das ist mir wichtig.
Du sprichst von deiner Kindheit in Masar-e Scharif. Konnte man dort einfach Kind sein?
Shahzamir: Es gibt natürlich schlechte Erfahrungen. In Afghanistan ist seit 40 Jahren Krieg. Eigentlich war meine Kindheit nicht gut, unser Leben war schwer. Ich habe aber auch gute Erinnerungen an meine Kindheit, Straßenfußball zum Beispiel.
Deine Familie lebt noch in Masar-e Scharif?
Shahzamir: Ja, mein Papa und meine Mama leben noch dort. Ich habe noch eine ältere Schwester, die mit ihrer Familie auch in Berlin lebt.
Wie bist du zum „The Poetry Project“ gekommen?
Shahzamir: 2015, als ich noch in einer Unterkunft im Ostteil Berlins gewohnt habe, kam Susanne Koelbl (Initiatorin des Projekts und SPIEGEL-Auslandskorrespondentin, Anm. d. Red.) zu uns und hat Jugendliche gesucht, die Interesse am Schreiben haben, die ihre Geschichten und Gedichte teilen wollen. Erst habe ich nein gesagt, weil ich damals kein Deutsch konnte, nur Englisch. Dann hat mir aber Arash D. Spanta (Mitinitiator des Projekts, Anwalt und Übersetzer aus Afghanistan, Anm. d. Red.), der auch hier in Deutschland wohnt, etwas mehr über das Projekt erzählt und ich dachte, okay, da mache ich mit. Schreiben war schon damals mein Hobby. Seitdem bin ich dabei und es ist sehr schön, mit den Leuten zu arbeiten – schon fünf Jahre.
Du schreibst Gedichte?
Shahzamir: Ja, meistens. Manchmal, aber sehr selten, schreibe ich auch Geschichten.
In welcher Sprache verfasst du deine Gedichte?
Shahzamir: Im Moment schreibe ich auf Deutsch, seit zwei Jahren. Früher habe ich in meiner Muttersprache geschrieben, die Gedichte wurden dann ins Deutsche übersetzt.
Schreibst du für dich, um deine Erfahrungen zu verarbeiten? Oder ist das Schreiben etwas, das du dir auch als Beruf vorstellen kannst?
Shahzamir: Ich glaube, es ist ein bisschen schwierig, daraus wirklich einen Beruf zu machen. Eigentlich mache ich das für mich selbst. Und für die Menschen, die meine Gedichte lesen wollen. Ich schreibe über meine Gedanken, über alles, was ich mir vorstelle. Ich versuche, mich in Gedichten auszudrücken. Wie ein Ventil. Ich mache das aber auch, weil es mir einfach Freude bringt und Kummer nimmt. Ich lasse alles raus und sage gern: Der Schmerz muss auf die Blätter.
Was ist dein Zukunftsplan, was möchtest du in den kommenden Jahren machen?
Shahzamir: Jetzt versuche ich erstmal, die Ausbildung abzuschließen, würde dann gerne als Stationsleiter arbeiten, mich weiterbilden. Als Pfleger hat man gute Möglichkeiten, sich fortzubilden. Und dann kann man auch etwas anderes machen, zum Beispiel Medizin studieren. Das kann ich mir auch sehr gut vorstellen, weil ich gern mit Menschen arbeite. Ich sehe meine Zukunft in diesem Beruf, weil es mir Spaß macht. Das ist das, was ich machen möchte.
Empfindest du Berlin als dein Zuhause?
Shahzamir: Ja, Berlin ist mein Zuhause. Ich werde im Krankenhaus oft gefragt, woher ich komme. Ich sage dann immer Berlin. Weil ich mich hier wohlfühle, weil Berlin meine Heimat ist, weil ich hier Freude empfinde, Freunde habe, Familie. Berlin ist schön, meine zweite Heimat.
Shahzamir, hast du einen Wunsch für die Zukunft oder möchtest du noch etwas loswerden, was dir besonders wichtig ist?
Shahzamir: Ich wünsche mir einfach, dass wir uns als Menschen alle gleich sehen. Viele sagen, der ist schwarz und der ist weiß. Ich wünsche mir, dass wir solche Unterschiede eines Tages nicht mehr sehen. Mensch ist Mensch. Wenn wir den Hass aus unseren Körpern entfernen, sind wir alle glücklich. Wenn ich beleidigt werde, frage ich mich warum? Es ist wie mit zwei Eiern, deren Schalen unterschiedliche Farben haben. Wenn wir die Eier aufschlagen, sieht das, was darin steckt, vollkommen gleich aus. So ist es mit uns Menschen. Innen drin sind wir alle gleich. Ich wünsche mir, dass der Hass einfach irgendwann verschwindet.
(Interview von Conrad Menzel)
DER EINZIGE SOHN von SHAHZAMIR HATAKI
65 Menschen waren auf dem Boot Der Schmuggler deutete auf einen Berg – dort ist Griechenland, sagte er. Das Wasser fiel wie Wände auf uns herab. Der Motor stoppte. Es waren viele Kinder im Boot. Es kenterte. Ich kann nicht schwimmen. Zwei Minuten blieb ich unter Wasser, die rote Weste zog mich an die Oberfläche. Ich hatte furchtbare Angst. Es war sehr kalt. Alle schrien. Ich auch. Vor mir war ein Kind. Ich tröstete es, du musst nicht weinen, und ich wusste es doch besser. Eine Mutter ertrank vor meinen Augen, ihr Kind im Arm. Zwei Stunden, dann kam das Boot, uns zu retten. Überlebt haben 20 Menschen. Die kleinen Kinder waren alle tot. Ein Junge, er war so alt wie ich, saß neben mir im Rettungsboot. Er schrie immerfort »Mutter, Mutter«. Ich fragte ihn, warum weinst du? Er sagte, seine Familie, sieben Menschen, sie seien gestorben. Ich fragte mich, wer hätte meinen Eltern gesagt, wenn ich im Meer ertrunken wäre? Ich bin der einzige Sohn. Ärzte warteten. Ich konnte mich nicht auf den Beinen halten. Sie bargen nur acht Tote. Wir Überlebenden kamen ins Krankenhaus. Acht Tage und acht Nächte habe ich geschlafen. Und jeder Tag im Krankenhaus kam mir vor wie ein Jahr. Als ich losfuhr aus der Türkei, hatte ich 100 Dollar. Sie gingen im Wasser verloren. Am 20. Tag rief ich zu Hause an. Mutter sagte, warum hast du dich nicht gemeldet? Drei Tage habe ich nicht gegessen vor Sorge. Ich sagte, ich sei wohlbehalten angekommen, nur hätte ich das Geld für das Telefon nicht gehabt. Wie konnte ich ihr sagen, dass ich zehn Tage nur Kakao zu mir nehmen konnte, weil mein Körper voller Salzwasser war.